Ziel des Runden Tischs für Mitglieder vom Netzwerk Kinderbetreuung, pro enfance und TIPÌ war ein gegenseitiges Kennenlernen über Sprachgrenzen hinweg, ein Austausch über Themen der Kinderbetreuung und frühen Förderung sowie die gemeinsame Diskussion von Herausforderungen und möglichen Massnahmen für eine nationale Politik der frühen Kindheit und Kinderbetreuung in der Schweiz. Im ersten Teil der Veranstaltung erhielten die Anwesenden mit Referaten von Florence Pirard, Sylvie Lacoste, Paola Solcà, Alice Panzera-Biaggi und Claudia Hametner Inputs zu erprobten Angeboten und Projekten der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung auf internationaler Ebene, wie auch auf Kantons- und Gemeindeebene in der Schweiz.
Referate
Florence Pirard – « Coopération au service de la construction d’une qualité d’accueil »
Florence Pirard von der Universität Liège in Belgien sprach über die Bedingungen qualitativ guter familienergänzender Kinderbetreuung und betonte: Qualität heisst nicht Standardisierung aller Strukturen, Inhalte und Abläufe in der Betreuung, sondern Qualität erlaubt Diversität, natürlich stets in einem gesetzten Rahmen, der von Qualitäts-Guidelines und Empfehlungen vorgegeben wird, welche wiederum auch weiterentwickelt und angepasst werden müssen. Diese Tools sind für die Professionalisierung in der Kinderbetreuung unerlässlich. Für eine qualitativ hochstehende Kinderbetreuung reichen aber Qualitäts-Standards und Empfehlungen alleine nicht aus, sondern diese müssen auch im Rahmen eines vernetzten „kompetenten Systems“ umgesetzt werden. In diesem System sollen alle involvierten Akteure und Strukturen – von den BetreuerInnen, über die Trägerschaft, die Behörden bis zu den Familien – an der Erreichung von Qualitätszielen mitwirken.
Die Team- und Netzwerkarbeit muss gefördert werden: Es braucht eine „Praktiker-Community“, die sich kollektiv austauscht, von der Betreuerin bis zur Geschäftsleitung. Es braucht eine auf Kompetenz basierende demokratische Debatte zwischen allen involvierten Akteuren, um möglichst qualitativ hochstehende Kinderbetreuung zu gewährleisten. Zudem braucht es eine gute Aus- und Weiterbildung sowie bessere Arbeitsbedingungen für das Betreuungspersonal: Für qualitativ hochstehende Kinderbetreuung brauchen die Fachkräfte bezahlte Arbeitszeit ohne Kinder, um ihre Arbeit vorzubereiten und zu reflektieren. Es müssen auch von der Politik Anreize gesetzt werden, eine gute Ausbildung einzugehen. Des Weiteren benötigt eine qualitativ hochstehende Kinderbetreuung gemäss Florence Pirard auch eine Intensivierung der Beziehungsarbeit zu den Familien. Denn Fachkräfte sind oft nicht darauf vorbereitet, effektiv und kontinuierlich mit den Familien zusammenzuarbeiten und diese einzubeziehen.
Sylvie Lacoste – « Eclairage sur le dispositif de l'accueil de jour des enfants du canton de Vaud et son modèle de subventionnement »
Sylvie Lacoste der Fondation vaudoise pour l'accueil de jour des enfants (FAJE) informierte in ihrem Referat über die Arbeit der FAJE und das Waadtländer Finanzierungsmodell im Bereich der familienergänzenden Kinderbetreuung. Die Stiftung FAJE setzt sich zusammen aus Vertretern des Kantons, der Gemeinden, der Arbeitgeberverbände und aus einem Konsultativgremium mit Eltern und Partnern aus den regionalen Netzwerken. Im Sinne einer öffentlich-privaten Partnerschaft finanziert sie Betreuungseinrichtungen über anerkannte regionale Netzwerke und fördert den Angebotsausbau damit gezielt.
Die Wirtschaft übernimmt Verantwortung, indem alle Waadtländer Arbeitgeber verpflichtet sind, einen jährlichen Beitrag von mindestens 0.08% der Lohnsumme an die Stiftung FAJE zu leisten. Gleichzeitig sind die Unternehmen über die Arbeitgeberverbände auch in der FAJE vertreten und haben damit auch Mitspracherecht in politischen Entscheidungsprozessen zur familienergänzenden Betreuung.
Sylvie Lacoste zeigte auf, dass die Vernetzung aller Akteure und Anspruchsgruppen in einer organisatorischen Struktur – der FAJE – einen Erfolgsfaktor dieses Modells darstellt und gleichzeitig aufgrund der unterschiedlichen Interessen und Rollen der Akteure auch Herausforderungen birgt. Die Zahl der Akteure und Interessengruppen im Bereich der familien- und schulergänzenden Betreuung, welche in den Diskussions- und Entscheidungsprozess einbezogen werden sollten, nimmt zudem immer mehr zu.
Paola Solcà und Alice Panzera-Biaggi – « Politique de l’enfance dans le Canton du Tessin »
Auch Paola Solcà und Alice Panzera-Biaggi der Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana (SUPSI) legten in ihrem Referat einen Fokus auf den Austausch zwischen allen involvierten Akteuren und Anspruchsgruppen der frühen Kindheit und Kinderbetreuung. Im Kanton Tessin wurde der Begriff "Politik der frühen Kindheit" ("Politique de la petite enfance") unterdessen vom Begriff "Politik der Kindheit" ("Politique de l’enfance") abgelöst, was zumindest begrifflich die Aufhebung starrer Abschnitte zwischen früher Kindheit, Kindergarten und Schule aufheben soll. Um dies praktisch umzusetzen, arbeiten sie an Guidelines zur reibungsloseren, auf den Bildungs- und Entwicklungsweg des Kindes fokussierten Gestaltung der Übergänge zwischen diesen Stufen. Zudem sind sie als Forscherinnen auf die Verbesserung der Datenlage zur FBBE-Praxis angewiesen und arbeiten zu diesem Zweck mit den FBBE-Fachkräften zusammen, um eine bessere Datengrundlage zu erhalten.
Zur besseren Gestaltung der Übergänge ist zudem die Intensivierung der Kooperation und Koordination zwischen den Beteiligten – den Familien, den Fachleuten, den Ausbildungsstätten, der Forschung, den Betreuungsinstitutionen und Behörden sowie Projekte – eines ihrer Hauptanliegen. Darum ist ein Projekt wie TIPÌ – Ticino Progetto Infanzia auch wichtig. Im Rahmen von TIPÌ werden verschiedene Forschungsaktivitäten realisiert und Weiterbildungen angeboten, um die Vernetzung aller involvierten Akteure und Organisationen in der frühen Kindheit zu verbessern, die Zusammenarbeit zu fördern und die entscheidenden Übergänge (z.B. zwischen Elternhaus und Kita oder Kita und Kindergarten) für die Entwicklung der Kinder erfolgreich zu gestalten.
Claudia Hametner – « Gemeinden als strategische Plattform und Netzwerker der Frühen Förderung »
Claudia Hametner des Schweizerischen Gemeindeverbands (SGV) stellte das Projekt "Gemeinden als strategische Plattform und Netzwerker der Frühen Förderung" vor, welches der SGV im Rahmen des Nationalen Programms gegen Armut des Bundesamts für Sozialversicherungen lancierte. Ziel ist, die Gemeinden für das Thema zu sensibilisieren und die Erkenntnisse und Erfahrungen insbesondere der kleineren und mittelgrossen Gemeinden zu erfassen und sie bei der Erarbeitung von Konzepten, Strategien und Netzwerken der frühen Förderung zu unterstützen. Kantonalen Strategien, die für die Gemeinden wichtige Orientierungs- und Arbeitshilfen sein können, sollen bekannter gemacht werden.
Im Rahmen des Projekts beauftragte der SGV die Hochschule Luzern – Soziale Arbeit mit einer Studie zur Erhebung der kommunalen Strategien und Konzepte (Meier Magistretti, C. & Schraner, M. (2017): Frühe Förderung in kleineren und mittleren Gemeinden. Situationsanalyse und Empfehlungen). Den Gemeinden wurden u.a. Fragen zur strategischen Ausrichtung der Massnahmen zur Unterstützung von Familien mit Kindern im Vorschulalter sowie Fragen zu Kooperationen und Netzwerken gestellt. Die Gemeinden setzen bereits eine Vielzahl von Angeboten und Initiativen im Bereich der Frühen Förderung um; eingebettet in eine Gesamtstrategie sind diese jedoch selten. Dabei würde dies helfen, Doppelspurigkeiten zu vermeiden und den Frühbereich als bildungs-, sozial- und gesundheitspolitische Querschnittsaufgabe anzunehmen. Für kleinere und mittlere Gemeinden ist es entscheidend, dass sie sich mit anderen Gemeinden vernetzen, um Synergien zu schaffen. Weiter umfasst das Projekt eine praktische Orientierungshilfe, welche die Gemeinden in Planungs- und Entscheidungsprozessen unterstützen soll, sowie die Durchführung von regionalen Seminaren im 2018. Die beiden Publikationen sind in Deutsch ab Februar 2018 auf der Website des SGV sowie auf www.gegenarmut.ch abrufbar.
Workshops zur Ausgestaltung einer Politik der frühen Kindheit
Im zweiten Teil der Veranstaltung setzten sich die Anwesenden in parallelen Workshops mit verschiedenen Themen und Fragestellungen einer Politik der frühen Kindheit auseinander. Es wurden sowohl Herausforderungen dieser Themenfelder als auch potenzielle Massnahmen diskutiert.
« Welche thematischen Zielsetzungen sind für eine Politik der frühen Kindheit zentral? »
Im Workshop "Welche thematischen Zielsetzungen sind für eine Politik der frühen Kindheit zentral?" wurden vier grosse Handlungsbereiche thematisiert, die in einer Politik der frühen Kindheit berücksichtigt werden müssen: Die Erreichung von Chancengerechtigkeit beim Schuleintritt; die Vereinbarkeit von Familie und Beruf; die Qualifikation der Fachkräfte sowie die Ausgestaltung der Finanzierungssysteme für den Bereich frühe Kindheit.
Die Finanzierung von Angeboten und Strukturen im Bereich frühe Kindheit und Kinderbetreuung ist eine grundlegende Herausforderung, welche alle anderen Themenfelder tangiert. Aus fachlicher Sicht reichen die heute gesprochenen Finanzmittel bei weitem nicht für die Investitionen in die frühe Kindheit und Kinderbetreuung, die zur Sicherung von Qualität und Professionalisierung, zur Erreichung aller Zielgruppen mit bedarfsgerechten Angeboten und zur Stärkung von Koordinationsstrukturen gemacht werden sollten. Dies gilt insbesondere für die Deutschschweiz.
Gerade beim Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf hätte auch die Wirtschaft ein grosses Interesse an einer Verbesserung der Situation – die Akteure aus der Fachwelt und Zivilgesellschaft müssen sich überlegen, wie die in kurzfristigen Zyklen denkende Politik und die auf Unternehmenserfolg abzielende Wirtschaft davon überzeugt werden können, dass sich Investitionen in den Bereich frühe Kindheit und Kinderbetreuung lohnen und langfristige Lösungen notwendig sind.
« Welche Strukturen braucht es für eine effektive Politik der frühen Kindheit? »
Im Workshop "Welche Strukturen braucht es für eine effektive Politik der frühen Kindheit?" wurden die Themen Koordination und Kooperation auf verschiedenen Ebenen thematisiert: Die vertikale Zusammenarbeit zwischen den föderalen Ebenen, die horizontale Zusammenarbeit zwischen Fachbehörden und Institutionen sowie die Vernetzung zwischen den Fachkräften.
Die Runde kam zum Schluss, dass auf allen Stufen des föderalen Systems mehr Koordination und Vernetzung nötig ist. Auf nationaler Ebene sollte zur Stärkung der Zusammenarbeit der verschiedenen Fachbehörden und im Feld involvierten Akteure eine Beobachtungs- und Koordinationsstelle errichtet werden, um eine Gesamtvision für eine Politik der frühen Kindheit und Kinderbetreuung in der Schweiz zu entwickeln. Damit der Bereich frühe Kindheit und Kinderbetreuung auch in der Öffentlichkeit präsenter ist und mehr Aufmerksamkeit erlangt, kann ein nationaler Event – ein Tag der Politik der frühen Kindheit und Kinderbetreuung – organisiert werden.
Die Fachwelt sollte sich zudem stärker vernetzen und mobilisieren, um ihre Anliegen auch an die Politik transportieren zu können. Hierzu braucht es auch eine starke gemeinsame Botschaft und Terminologie zum Bereich frühe Kindheit und Kinderbetreuung aus einer fachlichen Perspektive, über regionale Besonderheiten und Sprachgrenzen hinweg.
Weitere Informationen:
- Informationen zum Runden Tisch für Mitglieder des Netzwerks Kinderbetreuung Schweiz
- Informationen und Programm zum Runden Tisch 2017 "Politik der frühen Kindheit – Kooperation über Sprachgrenzen hinweg"
- Bericht zum Runden Tisch auf der Website von pro enfance