Schon Erfahrungen im Mutterleib und in den ersten Lebensjahren prägen den Menschen ein Leben lang. Umso wichtiger ist es, förderliche Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern zu schaffen – innerhalb der Familie und ergänzend dazu in Förderungs-, Betreuungs- und Unterstützungsangeboten. Das ist das Ziel der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE).
Trotz des Wissens um die Bedeutung der frühen Kindheit, engagiert sich die Schweiz bisher im Vergleich zum europäischen Umland wenig in diesem Bereich – sei es betreffend die Schaffung einer Elternzeit, die Senkung der Kosten familienergänzender Betreuung oder die Schaffung von interdisziplinären Förderketten und -netzwerken, um Familien zu begleiten. Dies hängt auch damit zusammen, dass FBBE in der Schweiz weitgehend als Privatsache und nicht als öffentliche Aufgabe verstanden wird. Diese Auffassung sollte sich wandeln: Bund, Kantone und Gemeinden sind gefordert, zusammen mit Akteuren aus der Fachwelt, Zivilgesellschaft und Wirtschaft eine kohärente und koordinierte Politik der frühen Kindheit auf den Weg zu bringen.
Die am 26. Februar 2019 von der Schweizerischen UNESCO-Kommission lancierte Publikation "Für eine Politik der frühen Kindheit – Eine Investition in die Zukunft" liefert für dieses Ziel eine wichtige Grundlage. Sie zeigt fachlich fundiert auf, wieso sich Investitionen in Angebote für kleine Kinder und ihre Familien nicht nur für diese selbst, sondern auch für die staatlichen Behörden, die Gesellschaft und die Wirtschaft lohnen. Und sie macht deutlich: "Wenn es nicht gelingt, eine kohärente Politik auf den verschiedenen staatlichen Ebenen unter Einbezug der Zivilgesellschaft zu etablieren, bleiben die bisherigen Massnahmen ein Flickwerk mit wenig Wirkung" (S. 4).
Die Handlungsfelder: Zugang schaffen, koordinieren und vernetzen, Qualität verbessern, Finanzierung sichern
Die Publikation der Schweizerischen UNESCO-Kommission zeigt vier Handlungsfelder auf, auf der eine umfassende Politik der frühen Kindheit aufbaut:
- Der Zugang zu Angeboten der frühen Kindheit muss für alle Familien gewährleistet sein: Alle Familien mit kleinen Kindern sollen in ihrem lokalen Umfeld Zugang zu qualitativ hochstehenden und bedarfsgerechten FBBE-Angeboten haben. Dazu braucht es unter anderem Strategien, wie auch sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen mit Angeboten angesprochen werden und die öffentliche Hand soll bei kostenpflichtigen Angebote – wie der familienergänzenden Betreuung – dafür sorgen, dass die Tarife für alle Eltern erschwinglich sind.
- Angebote und Akteure der frühen Kindheit müssen interdisziplinär vernetzt und koordiniert werden: Auf gesamtschweizerischer Ebene könnte dazu zum Beispiel ein institutionalisiertes Gefäss beitragen, in dem Vertreter aller föderalen Ebenen, der Wirtschaft und Zivilgesellschaft die Entwicklung der FBBE in der Schweiz begleiten. Auf kommunaler und kantonaler Ebene gilt es, die ressortübergreifende Koordination zwischen den Bereichen Gesundheit, Soziales, Integration und Bildung in Bezug auf den Frühbereich zu stärken und den Austausch zwischen Fachpersonen zu fördern. Zudem gilt es Schnittstellen und Übergängen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, sowohl zwischen den FBBE-Angeboten als auch zwischen den vorschulischen und den schulischen Angeboten.
- Die Qualität von FBBE-Angeboten muss sichergestellt und weiterentwickelt werden, sowohl personell als auch strukturell: FBBE-Angebote können Kinder nur dann optimal in ihrer Entwicklung begleiten und Familien unterstützen, wenn sie von guter Qualität sind. Auf die Qualitätssicherung ist darum grosses Augenmerk zu richten. Dafür muss unter anderem die Unterstützung von privaten Angeboten durch die Kantone und Gemeinden durchgehend an Qualitätsanforderungen gekoppelt werden. Bund, Kantone, Träger der Berufsbildung und Aus- und Weiterbildungsinstitutionen sollen die Aus- und Weiterbildung der FBBE-Fachpersonen fördern.
- Es braucht die notwendigen finanziellen Investitionen, um ein bedarfsgerechtes, qualitativ gutes und für alle Familien zugängliches Angebot zu schaffen: Keines der genannten Handlungsziele für die FBBE in der Schweiz kann ohne genügend finanzielle Ressourcen erreicht werden – diese müssen auch von der öffentlichen Hand investiert werden. Unter anderem sollten wirksame und erprobte Projekte, zum Beispiel zur besseren Erreichbarkeit sozial benachteiligter Familien, von der punktuellen Projektförderung in ein Regelangebot überführt werden. Insgesamt müssen Gemeinden, Kantone und der Bund mehr finanzielle Mittel aufbringen und geeignete Finanzierungsmodelle entwickeln, um qualitativ gute FBBE-Angebote zu stärken und die Kosten für Eltern insbesondere im Betreuungsbereich zu mindern.
Vielfältige Akteure fordern politischen Wandel für die frühe Kindheit
Am Lancierungsanlass zur Publikation gaben verschiedene Akteure auf dem Podium eine Einschätzung dazu, was sich auf politischer Ebene ändern muss, um die FBBE in der Schweiz nachhaltig zu verankern und die dafür notwendigen Strukturen zu schaffen.
Zum Einstieg gaben mit Valérie Piller Carrard (Nationalrätin Kt. FR), Christoph Eymann (Nationalrat Kt. BS) und Paolo Beltraminelli (Regierungsrat Kt. TI) politische EntscheidungsträgerInnen aus der Deutschschweiz, der Romandie und dem Tessin einen sprachregionalen Blick auf das Thema frühe Kindheit. Valérie Piller Carrard wies auf die Ungleichheiten zwischen den Landesregionen hin; zum Beispiel, dass Eltern in der Deutschschweiz bisweilen doppelt bis dreifach so viel für einen Kita-Platz bezahlen wie in der Romandie. Christoph Eymann betonte, dass FBBE aus liberaler Sicht eine Notwendigkeit sei: Das primäre Argument für Investitionen in die frühe Kindheit sei, dass allen Kinder möglichst gleiche und gute Startchancen ins Leben zustehen sollen. Paolo Beltraminelli zeigte auf, wie die Politik im Tessin auf einen vorhandenen Problemdruck reagierte: Der Kanton Tessin ist stark vom demografischen Wandel betroffen und hat darum schon vor langer Zeit damit begonnen, politisch in Unterstützung für Familien und Kinder ab Geburt zu investieren.
Schlüsselakteure im Frühbereich sind die Kantone, die unter anderem durch Vertretungen der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) und der interkantonalen Konferenz der Sozialdirektorinnen und -direktoren (SODK) am Lancierungsanlass dabei waren. Aufgrund des Engagements in Kantonen und Gemeinden sind in den letzten Jahren vielerorts neue Strukturen und Angebote für Familien mit kleinen Kindern entstanden. Aufgrund der eingeschränkten Handlungskompetenz des Bundes in der Familien- und Kinderpolitik sind heute die Kantone und Gemeinden der zentrale Motor für die Stärkung der FBBE in der Schweiz. Mit dem zunehmenden Engagement einzelner Kantone und Gemeinden zeigen sich aber auch Ungleichheiten, zum Beispiel zwischen Landesregionen oder zwischen städtischen und ländlichen Gebieten.
Die Investitionen in Förderungs- und Betreuungsangebote für Kinder ab Geburt unterscheiden sich zwischen den Kantonen und Regionen, was die Chancengerechtigkeit für die Kinder und für die Familien im gesamtschweizerischen Vergleich mindert. Was die Rolle des Bundes im Bereich der FBBE sein soll, wurde daher von verschiedenen Akteuren als zentrale Frage genannt. Vermehrt werden Stimmen laut, wonach der Bund ein stärkeres Engagement und mehr Verantwortung für den FBBE-Bereich übernehmen, strategische Impulse setzen und die Kantone bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützen soll.
Vom Orientierungsrahmen zur Analyse des politischen Handlungsbedarfs
Die Publikation "Für eine Politik der frühen Kindheit" resultierte aus einem längeren, fachlich fundierten und breit abgestützten Prozess. Die Basis wurde schon Jahre vor der eigentlichen Erarbeitung der Publikation gelegt: Ein erster Meilenstein war die Grundlagenstudie "Frühkindliche Bildung in der Schweiz", die Prof. Margrit Stamm im Auftrag der UNESCO-Kommission 2009 erarbeitete. Es handelt sich um eine damalige Bestandesaufnahme zum Stand der FBBE in der Schweiz, die aufzeigte, wie der Frühbereich in der Schweiz ausgebaut, optimiert und konsolidiert werden sollte.
Mit dem Orientierungsrahmen für FBBE in der Schweiz, den das Netzwerk Kinderbetreuung Schweiz 2012 zusammen mit der UNESCO-Kommission herausgab, wurde das erste nationale Referenzdokument für Qualität in der frühen Kindheit geschaffen. Darauf aufbauend formulierte der Appell für FBBE Forderungen aus fachlicher Perspektive an die Politik: Es seien die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen für die optimale Entwicklung von Kindern ab Geburt, sowohl in der Familie als auch in familienergänzenden Angeboten.
Die Publikation "Für eine Politik der frühen Kindheit" baut nun auf diesen und weiteren Vorgänger-Initiativen, -Studien und -Programmen auf. Sie verdeutlicht die Zusammenhänge zwischen einer ausgebauten Politik für Kinder ab Geburt und dem Nutzen dieser Politik für die Kinder, die Familien, die Gesellschaft, die staatlichen Behörden und die Wirtschaft. Nun ist es an den politischen EntscheidungsträgerInnen, Behörden, der Fachwelt und Zivilgesellschaft, einen Wandel in Gang zu setzen.
Die Publikation kann kostenlos auf der Website der Schweizerischen UNESCO-Kommission heruntergeladen oder in gedruckter Form bestellt werden. Sie ist auf Deutsch, Französisch und Italienisch verfügbar.
Medienberichte:
- NZZ, 26.02.2019
- RTS, 26.02.2019
- Aargauer Zeitung, 26.02.2019
Weitere Informationen:
- Für eine Politik der frühen Kindheit: Eine Investition in die Zukunft, Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung / Frühe Förderung in der Schweiz. Erarbeitet von INFRAS, erstellt im Auftrag der Schweizerischen UNESCO-Kommission. Bern (2019).
- Wustmann Seiler, C. & Simoni, H. (2016; dritte, erweiterte Auflage): Orientierungsrahmen für frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung in der Schweiz. Erarbeitet vom Marie Meierhofer Institut für das Kind, erstellt im Auftrag der Schweizerischen UNESCO-Kommission und des Netzwerks Kinderbetreuung Schweiz. Zürich.
- Netzwerk Kinderbetreuung Schweiz & Schweizerische UNESCO-Kommission [Hrsg.] (2015): Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung in der Schweiz. Unser Appell. Zofingen.
- Stamm, M. et al. (2009): Frühkindliche Bildung in der Schweiz. Eine Grundlagenstudie im Auftrag der UNESCO-Kommission Schweiz. Freiburg.