Die Resolution des Netzwerks Kinderbetreuung Schweiz zur Lage der schul- und familienergänzenden Kinderbetreuung in der Schweiz, verabschiedet im April 2020.
Seit Inkrafttreten des Bundesgesetzes über Finanzhilfen für familienergänzende Kinderbetreuung im Jahr 2003 wurde vom Bund die Schaffung von fast 63'000 neuen Betreuungsplätzen für eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstützt. Vertreterinnen von Verbänden und Organisationen von Kindertagesstätten, Tagesfamilienorganisationen und schulergänzenden Betreuungsangeboten begrüssten die Finanzierung, warnten aber davor, beim quantitativen Ausbau nicht gleichzeitig die Verbesserung der Betreuungsqualität im Auge zu behalten. Sie verabschiedeten im Jahr 2005 eine Charta mit Qualitätsanforderungen für die familienergänzende Kinderbetreuung, die heute noch aktuell ist.
Um den Forderungen der Charta Nachdruck zu verleihen, gründeten diese Verbände und Organisationen im Mai 2006 den Verein Netzwerk Kinderbetreuung Schweiz. Er steht mit der von den Mitgliedern unterzeichneten Charta für eine hochwertige Qualität in der institutionellen Kinderbetreuung ein.
Dank der Finanzierung von Bund, Kantonen und Gemeinden wurde ein massiver quantitativer Ausbau der Betreuungsplätze erreicht. Nichts geändert hat sich an der zum Teil ungenügenden Betreuungsqualität. Im Gegenteil, die aktuelle Form der Vorgaben und der Finanzierung der Kinderbetreuung hat zu einem stetigen Qualitätsabbau geführt. Dies hat die seit Dezember 2019 über mehrere Monate anhaltende mediale Berichterstattung, ausgelöst durch einen Artikel des Onlinemagazins «Republik», sehr deutlich gezeigt.
Das Netzwerk Kinderbetreuung Schweiz ist besorgt über den schleichenden Abbau der Betreuungsqualität. Es fordert deshalb, im Interesse eines gesunden Aufwachsens der betreuten Kinder, aber auch im Interesse der Eltern und einer Gesellschaft, in der gute Förderung und Bildung eine zentrale Ressource ist, eine Abkehr vom heutigen, unzeitgemässen Betreuungssystem.
Der diesjährige Runde Tisch, das Mitgliederorgan des Netzwerks Kinderbetreuung Schweiz, nahm diese Debatte im Februar 2020 auf und verabschiedete folgende fünf Forderungen:
A. Die Mitglieder des Netzwerks Kinderbetreuung Schweiz fordern verbesserte Rahmenbedingungen und höhere Investitionen der öffentlichen Hand
1: Vorschulbetreuung als Teil des Bildungsbereichs etablieren
Die institutionelle Kinderbetreuung wird gesellschaftlich und politisch als Teil des Bildungswesens anerkannt und mit einem mit der Volksschule vergleichbaren Auftrag und vergleichbaren Rahmenbedingungen ausgestattet. Die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung ist ein verbindlicher öffentlicher Auftrag auf allen politischen Ebenen.
Bildung beginnt nicht erst im Alter von vier Jahren. Durch die Entschärfung der künstlichen Trennung zwischen frühkindlicher Bildung und den nachfolgenden Stufen werden starke Bildungs- und Betreuungsketten ermöglicht. Als Fundament der Bildungsbiographie muss die frühkindliche Bildung im Gesamtsystem berücksichtigt werden. Die frühkindliche Förderung zielt darauf ab, Kindern eine anregungsreiche Lernumgebung bereitzustellen, in der sie vielfältige Erfahrungen mit sich und der Welt sammeln können. Sie ermöglicht gerechtere Entwicklungschancen der Kinder und fördert deren soziale Inklusion, sofern der Zugang für alle gewährleistet ist.
2: Eine höhere pädagogische Qualität einfordern
Die kantonalen und kommunalen Vorgaben zur institutionellen Kinderbetreuung müssen Anforderungen an die pädagogische Qualität festhalten, die einen Rahmen festlegen, in dem die betreuten Kinder in ihrer individuellen Entwicklung gefördert werden.
Analog zum Bildungsauftrag der Schule, braucht die familienergänzende Kinderbetreuung einen verbindlichen pädagogischen Auftrag, der eine Betreuung ermöglicht, in welcher Kinder individuell begleitet und gefördert werden können. Das Netzwerk Kinderbetreuung und die Schweizerische UNESCO-Kommission haben dazu das Referenzwerk «Orientierungsrahmen für frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung in der Schweiz» herausgegeben.
3: Mehr und besser qualifizierte Fachpersonen in der Betreuung
Die Arbeit in der institutionellen Kinderbetreuung wird durch genügend ausgebildete Fachpersonen geleistet, welche zu einem bedeutenden Teil über einen tertiären Abschluss verfügen.
Eine qualitativ hochstehende Betreuung, Erziehung und Bildung von Kindern erfordert entsprechend qualifizierte und verfügbare Fachpersonen, welche der pädagogischen Verantwortung auf allen Altersstufen gerecht werden können.
Alle Betreuungspersonen müssen über eine entsprechende Ausbildung verfügen, dabei braucht es einen bedeutenden Anteil von Fachpersonen mit einem tertiären Abschluss und einen Ausbau von formalen Weiterbildungen. Beim Betreuungsschlüssel ist darauf zu achten, dass zu jeder Zeit genügend Personal im Betrieb ist, um dem pädagogischen Auftrag gerecht zu werden, und dass alle Beschäftigten neben der direkten Arbeit mit den Kindern auch Zeit zur Entwicklung, Vorbereitung und zur Evaluation ihrer Arbeit brauchen. Alle Mitarbeitenden in Ausbildung dürfen nicht mehr zum Betreuungsschlüssel dazu gerechnet werden.
4: Aufsichtsbehörden mit ausreichend fachlichen Ressourcen ausstatten
Die kantonale und kommunale Aufsicht wird von ausgewiesenen Fachpersonen wahrgenommen, die ihre zentrale Aufgabe in der Unterstützung von Qualitätsentwicklungsprozessen sehen. Sie erfüllen ihren Auftrag in angemessener Häufigkeit und legen ihr Augenmerk wesentlich auf die pädagogische Qualität.
Die Aufsichtsbehörden fordern in den einzelnen Institutionen die Einhaltung der pädagogischen Vorgaben von Kantonen und Gemeinden ein. Sie verstehen ihren Auftrag im Wesentlichen in der Unterstützung der Institutionen bei Qualitätsentwicklungsprozessen. Dies erfordert fachlich versierte und erfahrene Fachpersonen. Um die Einhaltung der Vorgaben vermehrt zu überprüfen und durchzusetzen, und einen Beitrag zur Qualitätsentwicklung in der Kinderbetreuung leisten zu können, müssen Aufsichtsbehörden deutlich ausgebaut werden.
5: Finanzierung durch öffentliche Hand massiv erhöhen
Die institutionelle Kinderbetreuung bedarf einer massiv höheren Mitfinanzierung durch die öffentliche Hand, um dem Bildungsauftrag und seiner gesellschaftlichen Bedeutung als systemrelevantes Grundversorgungsangebot gerecht zu werden. Zudem muss die Betreuung für alle Eltern zugänglich und zahlbar sein.
Die Tarife für Angebote der familienergänzenden Kinderbetreuung sind für viele Eltern, insbesondere in der deutschsprachigen Schweiz, mangels geringfügiger Subventionen der öffentlichen Hand zu hoch. Der Staat muss vermehrt in die familienergänzende Kinderbetreuung investieren, sowohl auf qualitativer Ebene als auch zur Senkung der Elterntarife. Dies ist für die Chancengerechtigkeit aller Kinder und für die Armutsprävention von grosser Bedeutung. Die öffentlichen Investitionen in den Frühbereich sollen in der Schweiz rasch den OECD-Schnitt erreichen.
B. Sofortige politische Massnahmen für eine nationale Politik der frühen Kindheit über die Betreuung hinaus
Entwicklungen zu guter Angebotsqualität im Frühbereich wurden und werden massgeblich durch Initiativen von Nichtregierungsorganisationen geprägt. Nicht zuletzt wird jetzt mit der Kampagne «Kinder gestalten die Zukunft» eine entsprechende Änderung der Bundesverfassung eingefordert, welche die Basis einer koordinierten Politik der frühen Kindheit legt. Die Kampagne wird vom Netzwerk Kinderbetreuung getragen, mit kibesuisse als nationalem und pro enfance und TIPI als regionalen Partnern in der Romandie, resp. im Tessin.
Eine Änderung der Bundesverfassung ist ein Langzeitprojekt. Fortschritte müssen aber nicht auf sich warten lassen. So darf sich das Parlament bei der Umsetzung der parlamentarischen Initiative 17.412 Chancengerechtigkeit vor dem Kindergartenalter (Aebischer SP, BE) nicht mit dem Minimalvorschlag seiner nationalrätlichen Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK-N) begnügen, denn das ist kaum ein Tropfen auf den heissen Stein: Die Kommission will die Kantone bei der Entwicklung einer Politik der frühen Kindheit unterstützen und hat mit 17 zu 8 Stimmen beschlossen, dass der Bund befristet über 10 Jahre pro Jahr höchstens vier Kantonen einmalig Finanzhilfen gewähren kann, und zwar für die Dauer von je drei Jahren in der Höhe von jährlich 100'000 Franken.
Das Netzwerk fordert hingegen:
- sehr viel mehr zusätzliche Mittel und die Unterstützung von Gemeinden und nationalen Organisationen über die vorgeschlagene Finanzierung kantonaler Programme und Massnahmenpakete hinaus;
- die enge Koordination dieser Anschubfinanzierung mit dem Prozess der Ausarbeitung einer nationalen Strategie zur Stärkung und Weiterentwicklung der Frühen Förderung von Kindern in der Schweiz, mit entsprechenden Finanzierungen bleibender und nachhaltiger Strukturen beim Bund, beginnend mit der sofortigen Schaffung einer Koordinations- und Fachstelle Frühe Kindheit im BSV;
- den Ausbau der Ressourcen des Bundes für die Förderung von Massnahmen zur vertikalen und horizontalen Zusammenarbeit und zur Kompetenzentwicklung (Art. 18 bis 21 KJFG) in der gesamten Kinder-, Jugend- und Familienpolitik.