Aufwachsen in der Region – Das Potenzial von Synergien im Frühbereich in kleineren und mittleren Gemeinden

Das Netzwerk Kinderbetreuung Schweiz organisierte in Kooperation mit a:primo, kibesuisse, RADIX, dem Schweizerischen Gemeindeverband und dem Schweizerischen Städteverband die Veranstaltung «Aufwachsen in der Region – Das Potenzial von Synergien im Frühbereich in kleineren und mittleren Gemeinden».

  • Wie können Synergien im Frühbereich in kleineren und mittleren Gemeinden geschaffen und genutzt werden?
  • Was können Synergien zu Qualität in Angeboten der Frühen Förderung beitragen?
  • Welche Bedeutung hat die Zivilgesellschaft für den Frühbereich und welche Rolle kann sie einnehmen?

Gemeinden übernehmen in der Schweiz eine zentrale Rolle in der Ausgestaltung und Umsetzung von Angeboten für Kinder im Vorschulalter und ihre Familien. Die Bedeutung der frühen Kindheit als wichtige Lebensphase wurde in den letzten Jahren durch viele Gemeinden zunehmend anerkannt. Immer mehr Gemeinden investieren in die frühe Förderung, frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern und haben entsprechende Angebote auf- und ausgebaut und Projekte lanciert. Dies bedingt zunehmend auch, dass sich Gemeinden vertieft mit der Vernetzung und Kooperation verschiedener Akteur*innen im Frühbereich auseinandersetzen. Ziel ist, Synergien zu schaffen und nutzen zu können.

Im Rahmen von drei Fachreferaten wurde den Fragen nachgegangen, wie es gelingt, Synergien zu schaffen und erfolgreich zu nutzen und weshalb gemeinsame Ziele und gemeinsames Handeln in Praxis und Politik besonders relevant sind. Das anschliessende Podiumsgespräch befasste sich mit den positiven Wirkungen von Synergien auf die Qualität in Angeboten der frühen Förderung und welche grundlegende Bedeutung eine engagierte Zivilgesellschaft für eine umfassende Politik der frühen Kindheit und deren nachhaltigen Verankerung haben kann.



Synergien erfolgreich nutzen – Die Gemeinde als zentrale Akteurin in der Frühen Förderung
Referat von Jasmin Gonzenbach-Katz
, Fachexpertin Fachstelle für Kinder-, Jugend- und Familienfragen, Departement für Erziehung und Kultur, Kanton Thurgau.

Jasmin Gonzenbach-Katz hat Entwicklungspsychologie studiert und engagiert sich als Fachexpertin für eine umfassende Politik der frühen Kindheit. Die Fachstelle für Kinder-, Jugend- und Familienfragen (KJF) setzt sich dafür ein, die Rahmenbedingungen für Kinder, Jugendliche und Familien im Kanton Thurgau weiter zu verbessern. Das Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen, der Schutz und die Förderung der Familie sowie die Anerkennung ihrer Leistungen stehen dabei im Vordergrund. Die Vernetzung und Koordination sowohl privater als auch staatlicher Angebote in diesen Bereichen gehören zu den Kernaufgaben der Fachstelle KJF.

Im Rahmen des Referats «Synergien erfolgreich nutzen – Die Gemeinde als zentrale Akteurin in der Frühen Förderung» wurden die Zuständigkeiten der drei Staatsebenen der Schweiz und die zentrale Rolle der Gemeinde für ein gesundes Aufwachsen aller Kinder ausgeführt. Am Beispiel des Kantons Thurgau wird gezeigt, wie das Zusammenspiel von Kanton und Gemeinden gelingen kann.

Referat von Jasmin Gonzenbach-Katz: Synergien sinnvoll nutzen



Gemeinsame Ziele – gemeinsames Handeln: Synergien im Frühbereich durch Zusammenarbeit in Praxis und Politik
Referat von Prof. Dr. Martin Hafen
, Sozialarbeiter HFS und Soziologe, Institut für Sozialmanagement, Sozialpolitik und Prävention der Hochschule Luzern

Martin Hafen ist Sozialarbeiter und promovierter Soziologe, Professor an der Hochschule Luzern und Studienleiter des Master of Advanced Studies in Prävention und Gesundheitsförderung. Seine Themenschwerpunkte sind in der soziologischen Systemtheorie und in der Theorie von Prävention und Gesundheitsförderung zu verorten. Seit mehreren Jahren beschäftigt sich Martin Hafen vertieft mit der Frühen Förderung als wichtigstes Handlungsfeld der Prävention und Gesundheitsförderung.

Im Rahmen des Referats «Gemeinsame Ziele –gemeinsames Handeln Synergien im Frühbereich durch Zusammenarbeit in Praxis und Politik» wird die frühe Förderung aus unterschiedlichen Perspektiven thematisiert und aufgezeigt, warum Engagement zur Unterstützung von Familien notwendig ist und wie durch interprofessionelle und intersektorale Zusammenarbeit in Praxis und Politik gemeinsame Ziele erreicht werden können.

Referat von Prof. Dr. Martin Hafen: Gemeinsame Ziele – gemeinsames Handeln



Das Potenzial der Zivilgesellschaft sinnvoll nutzen: Erfahrungen in der Beratung von Gemeinden
Referat von Martine Scholer
, Primokiz Expertin, start smart Beratungen

Martine Scholer ist Expertin in verschiedenen Bereichen der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin war Martine Scholer von 2010 bis 2012 im Pilotprojekt primano der Stadt Bern involviert und seit 2013 als Expertin im Projekt «Primokiz» tätig. Als Geschäftsführerin von «start smart Beratungen» berät und unterstützt Martine Scholer Gemeinden und Kantonen bei der Entwicklung von Strategien und dem Aufbau von Netzwerken der Frühen Förderung sowie bei der Entwicklung von Angeboten der frühen Kindheit.

Im Rahmen des Referats «Das Potenzial der Zivilgesellschaft sinnvoll nutzen - Erfahrungen in der Beratung von Gemeinden» wird erläutert, wie Synergien im Frühbereich in kleineren und mittleren Gemeinden geschaffen und genutzt werden und was diese zu Qualität in Angeboten der Frühen Förderung beitragen. Anhand Beispiele guter Praxis wird die Rolle, die die Zivilgesellschaft hierzu einnehmen kann, illustriert.

Referat von Martine Scholer: Das Potenzial der Zivilgesellschaft sinnvoll nutzen



Podiumsgespräch «Zusammenspiel der Akteur*innen – gemeinsam für mehr Chancengerechtigkeit»

mit Jeannette Good, Geschäftsführerin Verein ABB Kinderkrippen, Vorstandsmitglied bei kibesuisse – Verband Kinderbetreuung Schweiz,

Stefan Luginbühl, Heilpädagoge und Gemeinderat von Wünnewil-Flamatt,Ressort Soziales, Gesundheit, Vorschule und Alter,

Maya Mulle, Geschäftsführerin Netzwerk Bildung und Familie, Co-Geschäftsführerin parentu, Primokiz Expertin und Organisationsberaterin,

Dr. med. Anna Pirker,Fachärztin FMH Kinder- & Jugendmedizin, Initiantin des Dokumentarfilms «Kindessenz»,

Andreas Wyss, Leiter des Fachbereichs für Kindheit, Jugend und Inklusion der Stadt Uster,

Brigitte Ryter, Leiterin regionale Fachstelle Kind und Familie, Regionale Soziale Dienste Wohlen (kurzfristig verhindert)

Wichtigste Erkenntnisse des Podiumsgesprächs

  • Anbietende medizinischer Grundversorgung, insbesondere Gynäkolog*innen, Hebammen und Kinderärzt*innen, erreichen mit Ihren Dienstleistungen fast alle Eltern. Im Rahmen medizinischer (Vor-)Untersuchungen können auch grundsätzlich schwer erreichbare Zielgruppen erreicht werden. Dieses Potential der Erreichbarkeit und damit einhergehend die Möglichkeit, benachteiligte Familien an unterstützende Angebote zu triagieren, wird derzeit nicht ausgeschöpft. Die beratende Vermittlung durch medizinische Fachpersonen wird nicht entgeltet und beruht dementsprechend auf freiwilligem Engagement. Damit Fachpersonen der medizinischen Grundversorgung das Potential der Zugänglichkeit zu den Eltern nutzen können, ist neben einer Finanzierung des abklärenden und beratenden Gesprächs die Information der Fachpersonen über (Unterstützungs-)Angebote für Kleinkinder und Familien erforderlich um zu verhindern, dass Familien mit hohem Bedarf durch die Maschen des sozialen Netzes fallen.

  • Um langfristig flächendeckend qualitativ gute Angebote im Frühbereich anbieten zu können, sind staatliche Mittel, die über eine Anstossfinanzierung hinausgehen, notwendig. Die Gemeinden als zentrale Akteure sind durch Bund und Kantone zu unterstützen. So ist die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung eine Verbundaufgabe. Die Lancierung und nachhaltige Verankerung von qualitativ guten Angeboten der frühen Kindheit bedarf den Einbezug politischer Entscheidungsträger*innen und das Schaffen politischer Mehrheiten. Leistungsvereinbarungen mit Organisationen im Frühbereich können ein qualitativ gutes, niederschwellig zugängliches Angebot im Frühbereich ermöglichen. Denn gerade vulnerable Familien können aufgrund ihrer prekären Lebenssituation, Ängsten und Erfahrungen im Kontakt mit Behörden gehemmt sein, staatliche Institutionen oder Angebote zur Unterstützung aufzusuchen. So kann bei Nichterfüllen der gesetzmässigen Integrationskriterien die Aufenthaltsbewilligung eines Drittstaatsangehörigen nicht verlängert werden.

  • Das Potential der Zivilgesellschaft bzw. die Bedeutung ehrenamtlichen Engagements im Frühbereich ist kaum zu unterschätzen. Freiwilliges Engagement entsteht bei Bedarf und orientiert sich zumeist an den Bedürfnissen vor Ort. Die Schaffenskraft der Zivilgesellschaft gilt es zu nutzen. Freiwillig engagierte Personen gilt es in ihrer Tätigkeit zu unterstützen und zu begleiten. Bedarfsgerechte Weiterbildungen sollen Qualitätsentwicklung und -sicherung ermöglichen, so dass das Engagement der Freiwilligen im Frühbereich dazu dient, das Kindeswohl zu fördern, indem die Familie als zentraler Bildungsort und das Kleinkind bei der Aneignung zentraler Lebenskompetenzen unterstützt wird.

  • Interkulturelle Kompetenzen sind bei der Zugänglichkeit zu Familien aus anderen Kulturen wichtig. Der Einbezug von Personen mit Migrationshintergrund als Schlüsselpersonen kann die Erreichbarkeit von Familien aus anderen Kulturen erhöhen. Sprachkenntnisse und Vertrautheit mit Brauchtum vereinfachen den Zugang zu den Familien und unterstützen die Inanspruchnahme von Angeboten im Frühbereich.




Zu guter Letzt

In der Studie von UNICEF «Worlds of Influence Understanding What Shapes Child Well-being in Rich Countries» von 2020 zum Kindeswohl rangiert die Schweiz auf Platz 4. Hierfür wurden vergleichbare Daten aus 41 Staaten der Europäischen Union und der OECD zu Themen wie der psychischen und physischen Gesundheit von Kindern, zu den schulischen und sozialen Kompetenzen sowie den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erhoben. Das gute Ranking der Schweiz darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Schweiz, das Bewusstsein um die grosse Bedeutung der ersten Lebensjahre der Kinder zwar stetig zunimmt, die Entwicklung hin zu mehr Ressourcen und Qualität für die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung aber noch lange nicht abgeschlossen ist. Die Investitionen der Schweiz in den Frühbereich belaufen sich seit Jahren auf 0.2% des Bruttoinlandprodukts und liegen demnach weit unter dem OECD-Schnitt von 0.8%. Die Bewertung des Kindeswohl bezieht sich auf das Wohlbefinden aller Kinder in der Schweiz und beschränkt sich nicht auf die spezifische Altersgruppe von 0 bis 4 Jahren. In Bezug auf die frühe Kindheit ist die Studie von UNICEF «Are the world’s richest countries family-friendly? Policy in the OECD and EU» von 2019, welche den Fokus auf familienfreundliche Rahmenbedingungen legt und u.a. das Bestehen bezahlter Mutter- und Vaterschaftsurlaube sowie Betreuungsangebote für Kinder im Vorschulalter untersucht, aussagekräftiger. Eine familienfreundliche Gesetzgebung ist insofern relevant, als dass die Familie der zentrale Bildungsort für Kinder darstellt. Die Schweiz platziert sich in Bezug auf die Familienfreundlichkeit nach Grossbritannien, Zypern und Griechenland auf dem letzten Platz.

Programm «Aufwachsen in der Region – Das Potenzial von Synergien im Frühbereich in kleineren und mittleren Gemeinden»